U-Boot-Krieg 1918: Der Oberleutnant feuerte auf Ärzte und Schwestern - WELT (2024)

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Einen Fehler kann man nicht durch einen zweiten, noch größeren Fehler ungeschehen machen. Genau das aber versuchte der Oberleutnant zur See der Kaiserlichen Marine Helmut Patzig am 27. Juni 1918.

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Mit seinem U-Boot "SM U-86" patrouillierte er rund 120 Seemeilen südwestlich von Irland, als ihm am Abend ein beleuchtetes und direkten Kurs haltendes Schiff auffiel. Patzig, ein schneidiger 27-jähriger Offizier, brachte sein Boot in Schussposition. Spätestens beim Anpeilen musste ihm auffallen, dass der rund 12.000 Tonnen verdrängende Dampfer mit einem Schornstein mittschiffs keinen Tarnanstrich hatte, sondern weiß war, einen roten Streifen über die gesamte Rumpflänge trug und mittschiffs sowie am Schornstein große rote Kreuze. Ein Lazarettschiff, eindeutig.

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Nun galten seit der Ausrufung des unbeschränkten U-Boot-Krieges durch Deutschland 1917 die hergebrachten Regeln des Kreuzerkrieges nicht mehr. Doch gekennzeichnete Lazarettschiffe waren dennoch tabu. Patzig aber kümmerte das nicht. Er gab später an, „militärisches Material“ auf dem Schiff vermutet zu haben, und ließ einen Torpedo abfeuern. Der schlug im Maschinenraum achtern ein.

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Die Folgen waren katastrophal: Sofort fiel die gesamte Beleuchtung an Bord des 1913 als Passagier- und Postschiff für die Ostafrikaroute gebauten Dampfers mit dem walisischen Namen „Llandovery Castle“ aus. Da auch der Funkraum zerstört worden war, konnte kein Notruf abgesetzt werden.

Schlimmer noch: Die gesamte Besatzung im Maschinenraum war tot, doch die Kessel ließen die Doppelschrauben des Schiffs weiter rotieren. Dadurch wurde das Sinken beschleunigt und Rettungsmaßnahmen erschwert.

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An Bord waren insgesamt 258 Menschen gewesen, darunter als einzige Passagiere 97 britische und kanadische Ärzte sowie Schwestern. Da das Lazarettschiff auf dem Rückweg von Kanada nach Europa war, transportierte es auch keine verletzten Soldaten.

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Nach Aussagen der Überlebenden konnten von den 19 Rettungsbooten, je sechs auf jeder Seite und sieben weitere am Heck, nur drei erfolgreich ausgebracht werden; mindestens zwei weitere stürzten von den Davits ab. Dann, nur zehn Minuten nach dem Torpedotreffer, verschwand die „Llandovery Castle“ in den Tiefen des Meeres.

Zwischen den drei schon voll besetzten Rettungsbooten schwammen weitere Schiffbrüchige. Auch Ende Juni war der Nordatlantik eiskalt; die einzige Chance der Schwimmenden war, schnell von einem der Boote aufgenommen zu werden.

Bis hierhin war Patzigs Verhalten ein schwerer Fehler und streng rechtlich betrachtet natürlich ein Kriegsverbrechen. Doch was der U-Boot-Kommandant nun tat, machte alles noch schlimmer: Er steuerte inmitten der Rettungsboote und zwang mit Revolverschüssen eines von ihnen, an „U 86“ anzulegen (und dazu die Rettung schwimmender Menschen zu unterbrechen).

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Dann vernahm er den ranghöchsten Mann an Bord des Bootes, warf ihm vor, Amerikaner zu sein und Kriegsmaterial auf dem Schiff transportiert zu haben. Der Mann, Major Thomas Lyon, ein Arzt des kanadischen Sanitätskorps, verneinte entschieden. Offenbar erkannte Patzig nun, dass er gegen die Grundregel verstoßen hatte, Sanitätspersonal zu schützen. Er drehte zunächst ab und überließ die Menschen ihrem Schicksal. Die nächste Stufe seines Fehlverhaltens.

Doch dann trieb er es noch weiter: Nach kurzer Zeit drehte „U 86“ und fuhr zurück. Nun waren nur noch vier Mann an Bord des aufgetauchten U-Bootes – die beiden Wachoffiziere Ludwig Dithmar und Johann (manchmal auch John geschrieben) Boldt sowie der Oberbootsmannsmaat namens Meißner und natürlich Patzig auf der Turmbrücke selbst.

Während der Kommandant dort blieb, feuerten die anderen Männer auf seinen Befehl mit der Kanone des U-Bootes etwa ein bis zwei Dutzend Granaten auf die drei Rettungsboote. Ob auch mit einem Maschinengewehr auf die Schwimmenden geschossen wurde, ist unklar.

Zwei mit Menschen vollgestopfte Boote wurden getroffen und sanken; eines konnte in der Dunkelheit verschwinden, obwohl mindestens eine Granate ganz in der Nähe einschlug. Die 24 Menschen in diesem Boot waren die einzigen Überlebenden der „Llandovery Castle“. Sie ruderten zwei Tage lang auf die irische Küste zu, bis ein britischer Zerstörer sie aufnahm.

Patzig versuchte nun, den Vorfall zu vertuschen: Er fälschte, für einen Seeoffizier ein schweres Vergehen, seine eigenen Logbuch-Einträge, um zum Zeitpunkt der Versenkung eine andere Position vorzuspiegeln.

Doch im einzigen Rettungsboot, das dem Granatbeschuss entkommen war, saß ausgerechnet Thomas Lyon, der sich die Kennung des Bootes gemerkt hatte: Schon am 2. Juli 1918 berichteten Zeitungen in Großbritannien und den USA, die „New York Times“ sogar auf der Titelseite, über die „Tragödie auf See“. Die Ausreden der deutschen Seite verfingen nicht.

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Entsprechend verlangten die Siegermächte, dass der Kriegsverbrecher Helmut Patzig und seine beiden Wachoffiziere (Oberbootsmannsmaat Meißner war bereits verstorben) angeklagt und verurteilt würden. Doch Patzig, der 1920 noch zum Kapitänleutnant befördert und dann aus der Armee entlassen worden war, entzog sich dem Verfahren durch Flucht. Seine Offiziere Dithmar und Boldt wurden aber im Juli 1921 verurteilt – zu jeweils milden vier Jahren wegen Beihilfe zum Totschlag.

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Am 22. Juli 1921 befasste sich das Reichskabinett mit der Angelegenheit – unter anderem weil der neue Chef der Reichsmarine, Admiral Paul Behncke, offiziell auf das Urteil reagiert hatte: „Zwei bewährte treue Kriegskameraden sind in Leipzig zu schweren Gefängnis- und Ehrenstrafen verurteilt worden. … Das Urteil und die Begründung trifft uns alle schwer.“

Patzig sei, so ein Gerücht in jenen Tagen, in Dänemark festgenommen worden. Nun befürchtete die Reichsregierung, dass er an Großbritannien ausgeliefert werden könnte, und beschloss deshalb, alles zu tun, um dies zu verhindern und den Beschuldigten (an dessen Schuld kein Zweifel bestand) nach Deutschland zu holen.

Allerdings erwies sich rasch, dass es sich bei der Festnahme um einen Irrtum gehandelt hatte. Patzig war in Wirklichkeit in seine Heimatstadt Danzig geflüchtet, die nun eine „Freie Stadt“ unter dem Mandat des Völkerbundes war. Deren Behörden weigerten sich jedoch offiziell, Patzig zu verfolgen.

Boldt und Dithmar sollten befreit werden – Angehörige der rechtsextremen Terrorgruppe „Organisation Consul“ versuchten es zum ersten Mal am 2. August 1921, damals noch erfolglos. Da die beiden Verurteilten daraufhin getrennt untergebracht wurden, wurden sie erst im November 1921 und im Januar 1922 befreit; beide tauchten unter und blieben strotz steckbrieflicher Fahndung und hoher Belohnungen verschwunden.

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Im Mai 1926 meldete sich dann Patzig mit einer „im Ausland“ verfassten Erklärung zu Wort und behauptete, geschossen habe auf seinen Befehl hin allein der verstorbene Maat Meißner; die beiden Wachoffiziere seien dagegen unbeteiligt gewesen. Dass ein einzelner Mann das Bordgeschütz eines U-Bootes gar nicht bedienen konnte? Gleichgültig.

Dennoch wurden nun die Haftbefehle gegen die drei Flüchtigen aufgehoben – juristisch ein Unding. Zwei Jahre später kassierte das Reichsgericht auch die Urteile gegen beide; Dithmar erhielt sogar eine Entschädigung von überaus üppigen 20.000 Reichsmark (damals gut zehn Jahresdurchschnittsgehälter), während Boldt in Südafrika nicht erreicht werden konnte und sich 1931 das Leben nahm. Patzig schließlich wurde 1930 offiziell amnestiert.

Im Zweiten Weltkrieg diente er erneut als U-Boot-Offizier, allerdings nur in Stabs- und Ausbildungsverwendung. Offenbar wollte die Kriegsmarine vermeiden, dass er der Royal Navy in die Hände fiel: Ein spektakulärer Prozess noch während des Krieges wäre sehr wahrscheinlich gewesen.

Ludwig Dithmars Spur verliert sich in den 1930er-Jahren. Major Thomas Lyon lebte noch bis 1948. Der Haupttäter Helmut Patzig wurde nie zur Verantwortung gezogen und starb unbestraft 1984.

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